Nation: Das kollektive Leben

Nation: Das kollektive Leben
Nation: Das kollektive Leben
 
Menschen brauchen eine Vorstellung von sich selber. Das gilt für Individuen wie Kollektive gleichermaßen. Wie dem Einzelnen bei der Geburt ein Name gegeben wird oder er sich in Initiationsriten einen sucht, so benötigen auch Gemeinschaften ein Bild von sich, in dem sie sich ihrer Identität vergewissern. Namen werden von Individuen gegeben, ebenso sind Vorstellungen über das Kollektiv gesellschaftliche Konstruktionen. Sie werden erfunden und gesetzt, entstehen in sozialen Auseinandersetzungen und Kämpfen. Eine der erfolgreichsten Erfindungen ist die Nation. Im 18. Jahrhundert in Europa entstanden, hat die Nation als einer der zentralen politischen und kulturellen Begriffe der Moderne seither nicht nur politisches Handeln in den europäischen Gesellschaften, sondern in der gesamten Welt geprägt. Die überseeischen Kolonien etwa, als Stammesherrschaften im 17. und 18. Jahrhundert von europäischen Königreichen erobert, lösten sich nach 1945 von dieser politischen Herrschaft im Namen einer »nationalen« Befreiung. Gegen die imperialistische Bevormundung erwies sich der Rekurs auf die Nation als äußerst erfolgreiche Strategie. Die globale Verbreitung dieser Erfindung wird auch daran deutlich, dass sich die Institution, die heute einen weltumfassenden politischen Gestaltungsanspruch erhebt, als »Vereinte Nationen« bezeichnet - im Gegensatz zum Völkerbund von 1920.
 
 Wir hier, ihr dort - Gemeinsamkeit und Abgrenzung
 
Was aber ist eine Nation? Das 19. Jahrhundert suchte die Antwort in vermeintlich unveränderlichen Sphären wie der Geschichte, der Sprache, der Natur. Das späte 20. Jahrhundert hingegen betont die Erfindung von Nationen, hat sie als gedachte Ordnung entdeckt: Der Mensch macht die Nation. Einen Staat kann man leicht definieren; er konstituiert sich durch die Dreiheit von Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt. Die Nation enthält diese Elemente, zielt jedoch auf mehr: auf die Vorstellung einer Gleichheit untereinander und der Unterschiedenheit von anderen. Der Wille zur Gemeinsamkeit und die Notwendigkeit der Abgrenzung gehören zusammen. Damit kann es nur eine Pluralität von Nationen geben. Kollektives Selbstbild einerseits, Feindbild andererseits - zwischen diesen beiden Polen formt sich die Idee der Nation. Das »Nationale« bezeichnet dann die besondere Qualität eines Kollektivs, dem relativ unwandelbare Eigenschaften mit einfachen Grundmustern zugeschrieben werden, die ebenso einfache Unterscheidungen ermöglichen. Wer dazugehört und wer nicht, ist dann sehr leicht festzulegen. Die Inhalte der jeweils nationalen Gemeinsamkeiten können sehr verschieden sein, oft vermischen sie sich auch miteinander. Sie können politischer, religiöser, kultureller, biologischer Natur sein.
 
Die französische Nation hat sich seit ihrer revolutionären Entstehung nach 1789 als politische Größe verstanden, mit dem Staatsbürger, dem Citoyen, als expansiv-universaler Kategorie. In Deutschland hingegen wurde die Nation im christlich-moralischen Gewand erfunden; der Begriff des »Erbfeindes« ist ein Produkt dieser Entstehung. Die rassischen Interpretationen der Nation seit dem späten 19. Jahrhundert finden sich in vielen Ländern, Deutschland zeichnete sich hierin nur durch eine besondere Radikalität aus. Die Formen dieser biologistischen Fantasien waren vielfältig. In der Schweiz suchte man in den 1930er-Jahren nach einem speziellen »Homo alpinus helveticus« - im multikulturellen und vielsprachigen Land vermied man es wohlweislich, rassische Gemeinsamkeiten durch kulturelle Gemeinsamkeiten postulieren zu wollen, und sah die Natur der Berge als überindividuelle, prägende Kraft.
 
 Das Versprechen auf Gleichheit
 
Allen diesen verschiedenen Varianten von Nation jedoch war und ist eines gemein: das Versprechen auf Gleichheit. Die Einheit als Nation erwuchs zum Zweck an sich. Politisch konnte das in ganz unterschiedliche Handlungsaufforderungen umgemünzt werden. Die Französische Revolution tat es missionarisch-menschheitlich; religiös und selbstbezogen antworteten die Deutschen der Befreiungskriege des frühen 19. Jahrhunderts auf diese zugleich universalistische und nationale Herausforderung; imperialistisch wendeten dann im späten 19. Jahrhundert fast alle europäischen Nationen ihr Einheitsversprechen. Die Verheißung einer biologisch-rassischen Gleichheit, die der Nationalsozialismus im 20. Jahrhundert aufstellte, diente ihm schließlich sogar dazu, die Vernichtung der derart als ungleich Definierten zu legitimieren.
 
Die Nation als Wille und Vorstellung ermöglichte die symbolische Konstituierung politischer Handlungseinheiten. Daraus erwuchsen im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Europa die Nationalstaaten. Mentalitäten, politische Weltbilder und kulturelle Leitbilder verbanden sich miteinander. Die Idee der Nation ermöglichte es, in bisher nicht gekanntem Ausmaß Menschen für politische Ziele zu mobilisieren, und setzte immense soziale Bindekräfte frei. Weder die französische Levée en masse (Massenaushebung) von 1792 noch die allgemeine Wehrpflicht in Preußen von 1813, weder das allgemeine Wahlrecht - für Männer im 19. Jahrhundert, für Frauen im 20. Jahrhundert - noch die fremdenfeindlichen Ausgrenzungspraktiken gegenüber Minderheiten, weder die Forderung nach einer allgemeinen Schulbildung noch der Anspruch auf eine sozialstaatliche Grundversicherung für jeden Bürger und jede Bürgerin - nichts davon ist denkbar, ohne die Suggestionskraft der Nation, ohne das ihr innewohnende Postulat, das Gleichheitsversprechen auch in politische Handlungen umzusetzen.
 
Die Nation war immer an Feinde gebunden. Das ist in den Jahren nach dem Ende des Kalten Kriegs, nach dem Ende einer alles überformenden weltanschaulichen Abgrenzung, in brutaler Deutlichkeit wieder erkennbar geworden. Die Auflösung der Sowjetunion, die Umstrukturierung des Balkans, aber auch die Kriege in Afrika demonstrieren, dass die Entstehung eines nationalen Selbstbildes untrennbar mit kriegerischer Abgrenzung verknüpft ist. Das Sterben des Einzelnen für die Nation verleiht dieser dabei eine überindividuelle Legitimation und Wertigkeit, wie sie in der Moderne sonst nicht mehr zu finden ist. Der politische Totenkult bringt diese sakrale Aura der Nation zum Ausdruck.
 
 Nationen, auf Gefühle gebaut
 
Nationen sind unverzichtbar auch auf Gefühle gebaut. Die Vorstellung einer kollektiven Zugehörigkeit gewinnt nur durch emotionale Bindungen Wirkmächtigkeit. Die nationalen Emotionen konnten auf unterschiedliche Art und Weise dargestellt werden. Die vielfältigen Formen der Erinnerung an die Kriege war eines der zentralen Ausdrucksmittel hierfür, doch ebenso sind die Feste zu nennen. Auch hier war die Französische Revolution in vieler Hinsicht beispielgebend. Die Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts konzentrierten sich in allen europäischen Ländern um Feste und Denkmäler. Man suchte die symbolische Gestaltung der Nation, es entstanden die Fahnen, Hymnen, Mythen, Feiertage und Embleme. Diese Erfindungen des 19. Jahrhunderts bestimmen noch heute den Symbolhaushalt der Nationen; man denke nur an die schon 1792 entstandene »Marseillaise« in Frankreich, an das »Deutschlandlied« Hoffmann von Fallerslebens von 1841 oder an das »Ihr Brüder Italiens« von 1847.
 
Im 19. Jahrhundert dienten die politischen und historischen Feste der emotionalen Selbstvergewisserung - im 20. Jahrhundert ist der Sport an diese Stelle getreten. Es gibt, zumindest im Großteil Europas, keine Nationalkriege mehr; die Nationaldenkmäler wandelten sich meist vom politischen Bedeutungsträger zum historischen Überrest. Doch inzwischen gibt es Nationalmannschaften, bietet der Sport die Gelegenheit, nationale Leidenschaften darzustellen und auszuleben. Darin werden dieselben Bedürfnisse erfüllt, die seit mehr als zwei Jahrhunderten an die Vorstellung der Nation geknüpft waren: die Gleichheit untereinander und die Unterscheidung von anderen.
 
Dr. Manfred Hettling

Universal-Lexikon. 2012.

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